Wenn schon Digitalisierung, dann richtig! Digitaler Dilettantismus ist in Deutschland noch immer die Regel

Dass Deutschland nicht gerade ein Leuchtturm in Bezug auf Digitalisierung ist, ist kein Geheimnis. Nach einer Studie des Beratungsunternehmens McKinsey aus dem Jahr 2022 könnte Deutschland durch die Digitalisierung seiner Verwaltung bis zu 16 Milliarden Euro pro Jahr einsparen – und für sinnvollere Projekte wie die Modernisierung von Schulen ausgeben. Auch ohne hellseherische Fähigkeiten kann man davon ausgehen, dass sich das Digitalisierungstempo der Verwaltung in den nächsten zehn Jahren nicht merklich beschleunigen wird.
Die Gründe dafür liegen unter anderem in der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, in den unterschiedlichen IT-Systemen und -Protokollen der Länder und schlichtweg in der fehlenden Priorisierung. Anstatt eine integrierte Lösung auf Bundesebene anzustreben, verliert man sich – für Deutschland typisch – im Klein-Klein. Jede Behörde in jedem der 16 Bundesländer beginnt auf eigene Faust (oder auch nicht), ihre Leistungen irgendwie zu digitalisieren. Oft bedeutet das erst einmal, dass Anträge online eingereicht werden können, nur um dann in der Behörde wieder ausgedruckt und analog bearbeitet zu werden – wenn man als Bürger überhaupt die richtige Website findet. Denn anders als in den meisten Ländern der Welt, in denen offizielle Regierungswebsites ein simples .gov in der Domainendung enthalten, schafft man in Deutschland gelegentlich sogar für einzelne Leistungen neue .de-Domains, wie etwa elterngeld-digital.de. Das ruft natürlich sofort zwielichtige „Dienstleister“ auf den Plan, die den eigentlich kostenlosen Service auf einer ähnlich klingenden Domain einfach nochmal kostenpflichtig anbieten – natürlich erst nach Eingabe hochsensibler Daten.
Im Schulwesen sieht es nicht anders aus: Laut der „Zukunftsstudie Schulmanagement 2023“ von Wolters Kluwer ist kein planvolles Vorgehen bei der Digitalisierung öffentlicher Schulen erkennbar. Vor allem die Schulleitungen führen zeit- und arbeitsintensive Prozesse wie Aktenablage, Termin- und Aufgabenplanung sowie Personalmanagement, einschließlich der Beurteilung, Führung, Weiterbildung und Gewinnung von Personal, noch weitgehend analog durch.
Dann wäre da noch das Gesundheitswesen. Die sogenannte Telematikinfrastuktur, die unter anderem das Auslesen der elektronischen Gesundheitskarte und elektronische Krankschreibungen ermöglichen soll, ist so fehlerhaft, dass sie auf Ärzteseite zu erheblicher Mehrarbeit führt.
Die Liste liese sich beliebig fortsetzen. Aufgrund einer fehlenden Gesamtstrategie und mangelhafter Umsetzung bleibt die Digitalisierung des öffentlichen Sektors auch in absehbarer Zukunft ein bodenloses Fass, das führungslos dahindümpelt.

Wer aber glaubt, der digitale Dilettantismus beschränke sich in Deutschland auf den öffentlichen Sektor, der hat weit gefehlt. Selbst große deutsche Traditionsmarken stellen ihn ganz ungeniert öffentlich zur Schau.
Bis vor Kurzem konnte man bei Audi einen Termin für den saisonalen Reifentausch zwar nur analog, aber dennoch ganz bequem per kurzem Telefonanruf erfragen, nur unter Angabe seines Kennzeichens und Namens – bis Audi den Prozess digitalisierte. Für Kunden wurde der Vorgang dadurch umständlicher und zeitaufwändiger. Beim Anruf unter der gewohnten Nummer wird man nun an die neue digitale Terminvergabe verwiesen, die man mit etwas Geduld auf der Website findet. Dann beginnt der Fragenmarathon: Terminwunsch, Kennzeichen, Name, E-Mail, Kilometerstand, Fahrzeugidentifikationsnummer, Erstzulassung. Die letzteren drei Angaben hat der Kunde gewöhnlich nicht griffbereit, sondern muss sie umständlich zusammensuchen.
Für massiven Kundenprotest und ein drohendes gesetzliches Verbot sorgte BMW mit der dreisten Idee, bestimmte, im Wagen bereits verbaute Sonderausstattungen erst gegen eine monatliche Abo-Gebühr freizuschalten, obwohl die Hardware dafür bereits mit dem Kaufpreis erworben wurde. Man wollte wohl irgendwie auf den allgemeinen Abo-Hype aufspringen.


Auch mehr als zehn Jahre nach Angela Merkels berühmtem Ausspruch „Das Internet ist für uns alle Neuland“ machen diese aktuellen Beispiele deutlich, dass die Digitalisierung in Deutschland noch immer in den Kinderschuhen steckt, auch wenn diese inzwischen schon aus allen Nähten platzen. Wenn Digitalisierung keiner Gesamtstrategie folgt und nicht zum obersten Ziel hat, Prozesse effizienter und für alle Beteiligten einfacher zu machen, ist sie völlig wirkungslos oder sogar kontraproduktiv. Denn wenn das Digitalisierung ist, wer möchte sie dann noch mit offenen Armen empfangen?