Audi liefert aktuell ein Beispiel dafür, wie Digitalisierung komplett falsch verstanden wird, wie dadurch kundenfeindliche Prozesse entstehen und was passiert, wenn Ingenieure UX-Designer spielen dürfen.
Es ist wieder Oktober – es wird kalt. Der Reifenwechsel steht an. Ich fahre einen Q8 e tron Sportback mit All-inclusive-Service. Somit sind auch die Reifen eingelagert und werden halbjährlich getauscht. Wie sah dieser Vorgang bisher aus? Und wie wurde er nun von Audi „optimiert“ und digitalisiert?
Ein Jahr zuvor (analog): Ich rufe bei meinem Audi-Partner an und schildere mein Vorhaben. Die Dame am Telefon fragt nach meinen Daten. Diese bestehen lediglich aus dem Kennzeichnen und meinem Namen. Nach kurzer Suche bin ich als Kunde identifiziert. Ein Terminangebot wird gemacht, der Termin ist gefunden. Ob ich einen Ersatzwagen kostenlos brauche? Nein, aber danke.
Der Tag ist gekommen. Ich fahre zu Audi, setze mich in den Wartebereich, trinke eine Cola. Etwas später bekomme ich meinen Wagen mit der Winterbereifung zurück. Soweit so gut. Ein analoges aber reibungsloses Erlebnis.
Heute (digital): Nun beginnt die Reise heute exakt gleich – ich rufe bei meinem Audi-Partner an und bitte um einen Termin zum Reifenwechsel. Hier werde ich gestoppt. Ich „muss“ den Termin nun online vereinbaren. Okay, völlig fein. Eine Information, die ich vielleicht verpasst habe. Ich lege auf. Suche nun auf der entsprechenden Website die Terminvergabe. Hier wird man zwar nicht mit Intuitivität bestochen – clippende Menüs, +30 Optionen auf meiner Startseite. Das ist aber ein anderes Thema. Ich finde die Terminvergabe durch ein riesiges Pop-up am unteren Bildschirmrand. Hier beginnt das eigentliche Drama. Ich sitze auf der Couch, draußen sind es 2°C. Die erste Frage: Wann hätte ich gerne einen Termin? Okay, ihr wisst doch noch gar nicht, wer ich bin? Aber völlig fein. Dann identisch zum Telefonablauf, das Kennzeichen. Kein Thema. Dann geht es weiter mit dem Kilometerstand? Sollte ich den als Kunde jederzeit im Kopf haben? Ich erinnere mich, dass man den Kilometerstand in der AudiApp abrufen kann (die auch ein Thema für sich wäre). Also zur AudiApp gewechselt. Aktualisierung abwarten. Da ist er, der Kilometerstand. Wieder gewechselt zur Website. Autoreload – alles von vorne. Also nochmal Termin auswählen, Kennzeichen eingeben, Kilometerstand. Passt. Ach da kommen noch weitere Fragen? Meine Fahrzeugidentifitkationsnummer. Ernsthaft? Eine Zahl, die ich wohl nur für diesen einen Moment benötige. Wo finde ich die nochmal? Natürlich keinesfalls intuitiv in der AudiApp. Am einfachsten wohl am Fahrzeug selbst an der Frontscheibe.
Also Jacke an, mit geöffneter Website nach draußen gegangen und bei 2°C die Scheibe freigewischt, um die Nummer in das Feld zu tippen. Schnell wieder rein auf die warme Couch. Es geht noch weiter. Die Erstzulassung – wohl im Fahrzeugschein im Handschuhfach. Also wieder raus ans Auto, ins Handschuhfach und die Erstzulassung abgelesen. Wieder rein auf die Couch. Dann noch die letzte Frage: die Kontakt-E-Mail. Woher kannte die Dame am Telefon im Vorjahr denn meine E-Mail? Ach aus dem System, das auch mein Kennzeichen kennt. Warum tut es das Online-System nicht? Der zuvor kostenlose Ersatzwagen wird mir online nun ohne weitere Infos als kostenpflichtig zubuchbar angeboten. Kennt das System mein Paket nicht? Oder gibt es für mich nun keinen kostenlosen Ersatzwagen mehr? Ich werde es hier nicht erfahren.
Endlich fertig. Ich habe den Termin mit 20 Minuten Mehraufwand und nach zweimal Jacke an- und ausziehen und raus in die Kälte gehen. Gut, dass mein Auto direkt vor meiner Haustür parkt. Zumindest musste ich nicht fünf Stockwerke Treppen laufen. Aber: digital!
Fazit: Einen Prozess zu digitalisieren bedeutet nicht, dem Kunden möglichst viel Aufwand zu übertragen, sondern den Prozess im Idealfall für beide Seiten effizienter zu gestalten oder gar komplett zu automatisieren. Mein Wagen lädt selbständig Updates und übermittelt Daten wie Kilometerstand etc. jederzeit online – deshalb werden diese ja auch in meiner AudiApp angezeigt. Audi selbst kann diese Daten abrufen, will mir dadurch aber wohl kein besseres Nutzererlebnis liefern. Deutscher Datenschutz? Tesla bekommt das in Deutschland auch hin.
In anderen Worten: ein genervter Kunde am Morgen. Ein schlechtes Erlebnis mit der Marke. Parallel beobachte ich ähnliche Prozesse bei einem unserer Firmenwagen von Tesla. Dort funktionieren alle der oben genannten Punkte um Welten besser.
Doch wer ist daran schuld? Keineswegs die Autohändler, die versuchen, in einem immer schwierigeren Markt die teilweise absurden Vorgaben der Automarken umzusetzen, dabei anscheinend keinerlei Support für gute UX/CX und Digitalisierung bekommen und stattdessen selbst Insellösungen schaffen müssen, um ihren Kunden eine gute Customer Experience zu liefern. Ob die Treue der Händler irgendwann bricht, wenn die Marke die Beziehung nicht wertschätzt?
Weitere Verbesserungsvorschläge:
Eine automatisierte Erinnerung zum fälligen Reifenwechsel per WhatsApp oder SMS mit einem Link zur Online-Terminvereinbarung wäre ohne großen Mehraufwand ein Riesengewinn für das Kundenerlebnis. Die Marke denkt für mich mit, nimmt mir Wege ab – eine positive Assoziation.
NACH dem Termin bekomme ich eine Terminerinnerung per SMS – warum nicht davor?
Eine einzige Angabe zur Identifikation reicht! Entweder E-Mail, Kennzeichen, Name oder Fahrzeugidentifikationsnummer – nicht alles zusammen.
Also Audi: Wenn ihr euch ein wenig mit kundenzentrierter UX auseinandersetzen würdet, könntet ihr eure Kunden positiv überraschen. Oder habt ihr daran kein Interesse?